Dienstag, 8. Dezember 2009

Buch-Rezensionen (174): Reimar Gilsenbach - Der ewige Sindbad (1975)

(Cover: gilsenbach-gilsenbach.de/Amazon.de)

"Merkwürdige Historie phantastischer Reisen zu Lande, zur See und ins All" lautet der Untertitel dieses 1975 in der DDR erschienenen Jugendbuches, landestypisch mit einer Altersempfehlung (ab 12 Jahren) versehen. In sieben großen Kapiteln werden anhand zahlreicher Beispiele, Auszüge und Nacherzählungen über 5000 Jahre literarischer, märchenhafter oder ideologischer Darstellungen von Reisen in sagenhafte Glücksländer, zu unbekannten Kontinenten oder in den Weltraum altersgerecht beleuchtet. Es finden sich darunter berühmte Klassiker wie neben dem Gilgameschepos und der Argonautensage beispielsweise die Abenteuer des Odysseus (Homer), Gullivers (Jonathan Swift) oder Robinson Crusoes (Daniel Dafoe), ergänzt um weithin unbekannte phantastische Legenden über prominente Gestalten der Welt- und Wissenschaftsgeschichte wie Alexander den Großen, Johannes Kepler, Cyrano de Bergerac oder Konstantin Ziolkowski.

Der breiteste Raum wird aber dankenswerterweise längst aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwundenen Werken eingeräumt, beispielhaft seien hier die Geschichte der Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel, die von unbekannten Autoren verfassten Schilderungen der Reisen Brendans, Herzog Ernsts, Jehan de Mandevilles und vieler anderer genannt. Lehrreich, unterhaltsam und mit vielen interessanten Anmerkungen zu technischen Entwicklungen, Zeitumständen bei der Entstehung der ausgewählten Werke und möglichen realen Hintergründen versehen.

Dennoch hinterlässt dieses Buch, speziell im Abschnitt "Länder der Hoffnung", der sich mit Traum- und Glücksländern aus der Feder Iambulos', Thomas Mores, Erasmus von Rotterdams, Jan van Leidens, Tommaso Campanellas, Francis Bacons, Étienne Cabets und anderer beschäftigt, einen schalen Beigeschmack. Denn zu offensichtlich ist die ideologische Stoßrichtung - die das Kapitel beschließenden Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels sollen als die logische Fortführung und als finale Erfüllung all dieser vorhergegangenen Schriften dargestellt werden, völlig negierend, dass diese teilweise aus völlig anderen Motiven (z.B. religiösen Überzeugungen) entstanden. Humanisten, radikale Protestanten und unpolitische Schwärmer gleichsam in kommunistische Geiselhaft zu nehmen, befremdet doch sehr, umso verwunderlicher unter dem beachtenswerten Umstand, dass der 2001 verstorbene Autor Reimar Gilsenbach als einer der ersten und prägendsten Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten der DDR gilt. Wie sich diese politische Haltung mit der im Buch verwendeten pauschalen Religionsverdammung und Verherrlichung des kommunistischen Gesellschaftsmodells vereinbaren lässt, ist für mich ein bisher ungelöstes Rätsel. Sollte doch die oftmals geäußerte Theorie stimmen, dass viele der DDR-Oppositionellen linker waren, als die sich selbst als ideal links verstehende Staatsführung, siehe Beispiel Wolf Biermann?

Die genannten Faktoren stören erheblich, reizen aber durchaus zu Denkanstößen und lebhaften Diskussionen, was das großformatige und schwergewichtige Buch auch für Erwachsene lesens- und erfahrenswert macht. Für Kinder bleibt immerhin ein spannendes Kompendium von phantastischer Literatur von Münchhausen bis Jules Verne, von H.G. Wells bis Edgar Allan Poe. Sehr lobenswert auch die grandiosen Illustrationen von Rainer Sacher, die neben zahlreichen historischen Originalgrafiken und Fotos zum Gelingen der Wissensvermittlung beiträgt.